22. April. Karfreitagmorgen

Mitten in der Nacht wache ich von lautem Geplätscher auf. Hu, wo bin ich? Ah, in Indien, alles gut. Was ist das für ein Geräusch? Regen. Er plätschert die Außenwände herunter und tropft laut auf die Terrasse vom Nachbarshaus. Leise schleiche ich zum Fenster und schaue durch die vergitterten Fenster gen Himmel. Es ist zwar mitten in der Nacht, dennoch ist es draußen so hell, dass Vögel und Fledermäuse geschäftig durch die Nacht fliegen. Die schweren Regenwolken hängen fast an den hohen Gebäuden und strahlen rotorange. Schlaftrunken schaue ich auf die Terrasse vom Nachbarhaus. Sehe die vielen kleinen und großen Pfützen, in die der Regen fällt. Wenn der Regen in sie hineinfällt sieht es aus wie kleine Kronen, die sich über dem Wasser gen Himmel erheben. Hinter den Kronen sehe ich allerlei Zeugs rumfahren. Ein alter Eimer, eine halbe Schüssel, Dachpappe, hi und da Wellblechstücke, einen Haufen voller Ziegel, ein alter vergilbter Fensterrahmen, Glasscherben, grüne und braune Flaschen, ein fleckiges Handtuch, das auf einer Schnur hängt. Eine langschwanzige Ratte, die schnell ins Treppenhaus hineinhuscht. In einer kleinen Kammer hinter dem Treppenabgang brennt eine nackte Glühbirne von der Decke. Die Wände sind schimmlig, vergilbt und fleckig. Auf dem Boden liegt zusammengerollt auf einer ausgelegenen alten Matratze ein Mann. Kein weiches Kissen unter seinem Kopf oder eine kuschelige Decke, die ihn zudeckt. Im Zimmer ist außer dieser Matzatze-NICHTS. Nur ein Haken an der Wand, am dem ein Sack hängt. Du lieber Himmel, unser Zimmer, so im direkten Vergleich betrachtet, erscheint mir dagegen wie purer Luxus. Oh herrjeh, am liebsten würde ich ein weißes Laken rüberbringen. Und am nächsten Morgen die Dachterrasse aufräumen, sie blank fegen, Pflanzenkrüge aufstellen, die Wände streichen, ein Bild aufhängen, ein Möbel hineinstellen….

Ich gehe wieder ins Bett, ziehe die Decke über meinen Kopf und frage mich, ob dieser Mann glücklich ist. Wenn ja: weil er es nicht anders kennt, er keinen Vergleich hat? Na, das kann ja nicht sein, er hat den Vergleich sehr wohl, denn er sieht viele Menschen tagtäglich. Oder weil er es nicht in Frage stellt? Ich sinniere, schlafe ein und träume wieder von Sai Baba. Entspannt liegt er auf einem weichen Sofa, das in einem Garten unter einem Schirm steht. Es weht ein leichter Wind. Devotees in weiß gekleidet halten sich in seiner Nähe auf. Alle tragen ein goldenes Medallion und eine blauen Schärpe um den Hals. Ich höre ihn gerade sagen:  „… Frieden fühlen bedeutet Shanti leben.“ Ich fühle die Blumen im Garten, rieche ihren Duft. So üppig! Ein Devotee kommt auf mich zu und sagt: „Sairam.“ Ich weiß nicht, was das heisst, denke, das sei eine Begrüßung und sage es ebenfalls. Er bedeutet mir, dass ich näher zu Sai Baba gehen möge. Sai Baba schaut mich an und macht eine einladente Handbewegung. Ich komme näher und setze mich. „Wer Ahimsa lebt ist in sich ruhend. Er wird Stärke fühlen, die ohne Gewalt ist“- Warmer Wind weht durch mein Haar.- „Wer rechtschaffen ist lebt Dharma.“- Die Stimmung ist voller Andacht.- „Derjenige, der die Wahrheit lebt ist auf dem Weg nach Sathya.“ Ich könnte stundenlang hier sitzen, zuhören, lernen. Ich fühle die Stimmung, die durch seine Worte erzeugt werden, nehme auf und genieße. Dann soll ich noch näher kommen, mich hinknien. Er beut sich über mich. Seine Stirn berührt die meine. Ich fühle ein Licht an der Mitte meiner Stirn, es ist so wundervoll.

Als ich aufwache ist schon heller Tag. Guido ist bereits geduscht, fertig angezogen und hat auch schon eingekauft. Von all dem habe gar nichts mitbekommen. Ich kann mich nur langsam bewegen und habe das Gefühl „ganz weit weg“ gewesen zu sein. Ich krieche ins Bad. Die Dusche ist heiss. Wie können wir ohne Internet herausfinden, wie es Sai Baba geht? „Es lag eine Zeitung unter der Tür.“ sagt Guido. Darinn steht, dass sein Gesundheitszustand eine leichte Besserung aufweist. Ich bin erleichtert und kann daher von dem duftenden Gebäck, das Guido eingekauft hat kosten. Hm, frisch gebacken, einfach köstlich. Hefegebäck mit kandierten Früchten. Ingwer, Sultaninen. Meine Finger werden ganz fettig. Das hat aber Gehalt, man kann nur wenig davon essen. Es ist sehr süß, ich bekomme davon Durst und greife nach dem Mangosaft. Oh, ist DER aber süß, alle Achtung, Zuckerschockalarm hier? Echt krass. Wir sprechen über Zucker und Diabetes. Die Diabetesrate in Indien sei sehr hoch sagt Guido. Die Wesen freut´s, ein Krümel Süßes, wie lecker. „Muss ja nicht das ganze Brötchen sein. Die Dosis macht´s.“ singen sie im Chor. Hi lustig.

Es hat aufgehört zu regnen und so beschließen wir, heute den Lalbaghgarten zu besuchen. Im Reiseführer steht, dass dies ein sehr schöner Park sei, auf dessen Anhöhe Jahrmillionenaltes Gestein zum Sitzen einaden würde. Das klingt ja toll! Wir beschließen auch, eine Rigscha zu nehmen. Weil wir gestern den Park „in Laufnähe“ ja auch nicht gefunden haben. Da muss man aber schon hinzufügen, dass wir keine Strassenschilder und Hausnummern gesehen haben, die einem dem Weg weisen könnten. So wie bei uns kann man sich wohl nicht orientieren. Oder wir haben das System noch nicht verstanden. Gesagt, getan. Wir packen einen Haufen Zeugs ein: Wasserflasche, Sonnencreme, Medikamente, Toilettenpapier, Desinfektionsspray, Kekse, Gebäck….und besteigen schwer bepackt den Fahrstuhl. Den kennt ihr ja bereits von gestern. Der Hotelier steht wieder auf, als wir kommen und wünscht uns einen schönen Tag.

So, nun eine Rigscha suchen. Es gibt viele. SEHR viele Rigscha´s. Wir halten Ausschau nach „der richtigen“. Denn wir sollten ja drauf achten, eine der grünen zu nehmen. Also steigen wir auch nur in eine grüne. Dann gäbe es Schilder, hinten angebracht, wo der Name draufstünde. Klar, wir schauen. Dann immer nur mit Taxometer fahren, aber ja, das wissen wir. Der erste Fahrer hat alles vorzuweisen und läd uns ein, einsteigen. Als ich mich hinsetzen möchte bleibt mein Rosenkranz in einem Spalt hängen. Ich sehe zu, wie der gesammte untere Teil abbricht. Ich bin entsetzt. Während der Fahrer beginnt herumzuschimpfen, dass er NICHT gesagt häbe mit Taxometer zu fahren (oder hat er gesagt, dass er nicht an den Park fährt?) jedenfalls sagt er, wir sollen wieder aussteigen, sammle ich schnell die blauen Perlen und das silberne Kreuz ein. Mir schießen Tränen in die Augen. Oh jeh, außgerechnet DER Rosenkranz. Was hat das zu bedeuten? Er ist mir so wichtig, erinnert ihr Euch-München-Dom-Maria! Persönlich gesegnet, also mir rinnen die Tränen über´s Gesicht. Hab ich nicht „genug aufgepasst auf ihn?“ Dim-Hie-Trie sagt nur trocken: „Jetzt steig schon aus. Das war nicht der richtige Fahrer. Und es ist Karfreitag Sian.“ Was? Ich verstehe nur das erste, das zweite dämmert mir erst, als wir in der nächsten Rigscha sitzen. Diesmal haben wir NOCH genauer geschaut. Und der Taxometer ist an. Der Fahrer fährt sicher durch die große Stadt. Ich entspanne mich und denke an Dim-Hie-Trie´s Worte. So trocken. „War nur eine Feststellung“ sagt er. Karfreitag. Jetzt dämmert´s mir: Jesus, Kreuz. Ach herrjeh!

Nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir am Park. Aber war es wirklich die richtige Entscheidung, heute in den Park zu gehen? Hätten wir nicht doch lieber weiterfahren „sollen“ zu Sai Baba? Mich plagen Zweifel.  „Er liegt doch immer noch im Krankenhaus, da können wir nicht hinein. Lass uns abwarten“ hatte Guido vorgeschlagen. Am Zahlhäuschen hängt ein Bild. Von Sai Baba. Er schaut uns an. Egal, von wo wir auch schauen. „Er sieht uns!“ freuen wir uns. Es gibt einen Gehweg, wo rosaviolette Blumen drüberwachsen. Unter ihnen zu gehen ist wundervoll. Es duftet nach Erde und Wurzeln.

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Dann fährt ein Bus vor. Mit einem Einhorn. Oh, wie klasse ist das denn! Also wenn DAS nicht Zeichen sind, dass es die richtige Entscheidung war! Erleichtert laufe ich weiter. Menschen lachen und schauen uns an. Jemand möchte meine Kamera um ein Bild von uns zu machen. Hm, ich soll ihm mein Iphone geben? Ich zögere und höre schon wieder einer der vielen Ratschäge „und geb nix aus der Hand, hörst Du?“ Also was, wenn er…? Mich nervt, dass ich ständig solche Ratschläge aufrecht erhalte. Das kostet mich echt Energie. Aber was, wenn doch…? Ich überwinde mich, gebe sie her und bin aber schon froh, als ich es wiederbekomme. Wie kann man nur damit umgehen? Der Bus fährt just in diesem Moment an uns vorbei. Menschen winken, fröhlich lächelnd.

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